Ehre Schuld und Sühne
Schwester Christina’s Stimme tönt fest und energisch. Die Frau ist vor 20 Jahren aus der Schweiz hierher, an den Stadtrand von Shkodra, gezogen. Um als Kapuzinerin in Nordalbanien den Frauen, den Ärmsten zu helfen, hat Sie zusammen mit zwei anderen Ordensschwestern und mehreren Mitarbeitern ein flaches Einfamilienhaus bezogen, das nun ihr neues Kloster ist. Doch eigentlich ist es mehr ein Hilfswerk als ein Gebetshaus. Dient den Ärmsten als lokale Krankenstation, ist Ausgabestelle von Essen, Kleidern und anderen Hilfsgütern. Alles nur dank internationaler Spenden, die Christina Färber organisiert . Das Kloster ist Anlaufstelle für Frauen, die in ihren Familien Gewalt erleben ,"das sind in dieser Gegend leider viele, wenn nicht die meisten". sagt sie. Täglich kommen Frauen in ihre Krankenstation, weil sie geschlagen wurden und von Kindheit an gelernt haben, dass sie nichts wert sind..
Dort haben wir am Mittag abgemacht. Mit einer mutigen Frau, die sich dem friedlichen Widerstand gegen den «Kanun», das albanische Gewohnheitsrecht, verschrieben hat. Konkret, gegen Gewalt an Frauen, gegen die Zwangs-Ehe und gegen die «Blutrache», in der hunderte Familien hier noch immer leben. Und darunter leiden.
Am Nachmittag will sie uns zu einer betroffenen Familie bringen. Zu einem Jugendlichen, der wegen Blutrache riskiert, getötet zu werden.
Denn hier, in diesem wilden, unberührten Bergland mit seinen dichten Wäldern, den Wasserfällen und blaugrünen Seen, ist der Kanun in den Köpfen vieler Leute fest verankert. Dieses ‚Gesetz der Ehre’: Die Ehre der Familien, der Sippe. Und die der Männer. Ein mündlich überliefertes Regelwerk aus dem Mittelalter. In dem Frauen aber keine oder kaum Rechte haben.
«Die Frau ist gemäss dem Kanun nur ein ‚Schlauch, der Kinder gebärt’», sagt die Schweizer Ordens-Schwester Christina Färber, als wir Stunden später mit ihr am Mittagstisch sitzen.
«Der Mann hat im Kanun das Recht, die eigene Frau zu schlagen, wenn sie seinen Anordnungen nicht gehorcht. Sie darf vom Mann sogar getötet werden.» Etwa wenn sie ihn verlässt oder ihm untreu wird.»
Ein rückständiges Gedankengut, das seit kurzem (erneut) auch die Schweiz bewegt: Zwei Frauenmorde, begangen von (kosovo)albanisch-stämmigen Männern, die ihre Partnerinnen, die sich von ihnen trennen wollten, kurzerhand umbrachten. Auf offener Strasse - im kosovarischen Prisren, während eines Urlaubs. Und danach in Dietikon (ZH).
Schwester Christina kennt nach zwanzig Jahren Albanien viele solcher Fälle. Deshalb bietet sie in geschütztem Rahmen im Kloster seit längerer Zeit einen Diskussionstisch an. Wöchentlich treffen sich dort bis zu 20 Mädchen und Buben, um Themen wie häusliche Gewalt, Zwangsehe oder Blutrache offen und kritisch zu besprechen. «Damit», hofft die Leiterin der ‚Spirituellen Weggemeinschaft’, «finden sie später vielleicht ihre eigene Identität, können sich vom Kanun und der Unterwerfung in der Familie endlich besser lossagen.»
Im ärmsten Land Europas wurde der Kanun über Jahrhunderte nicht nur weitergegeben. Er wurde verinnerlicht. Auch im Gebiet des heutigen Kosovos, in Montenegro und Nordmazedonien.